Memo Şahin

Am 2. und 3. Mai 2015 fand in Amed/Diyarbakir eine Konferenz zum Wiederaubau von Kobanê statt. Die Veranstalter der Konferenz waren neben der Stadtverwaltung von Amed auch die Handels- und Industriekammer von Diyarbakir sowie weitere NGOs, wie der Menschenrechtsverein IHD, in Zusammenarbeit mit der Kantonalregierung von Kobanê.

An der Mammut-Konferenz nahmen etwa 350 eingeladene Gäste, Vertreter der politischen Parteien und NGOs aus vier Teilen Kurdistans teil. Am ersten Tag folgten die inhaltlich ähnlichen Statements der Dutzenden Vertreter der Parteien und Gäste in fünfminütiger Takt, sodass mit der konkreten Arbeit erst am zweiten Tag begonnen werden konnte.

Unter den RednerInnen war auch eine Frau aus Halabja, wo am 16. März 1988 durch den Giftgasangriff der Saddam-Diktatur über 5.000 Menschen ermordet und weitere 10.000 verletzt wurden. Sie sagte, dass Kobanê aus den Fehlern der Vergangenheit, vor allem aber von den Fehlern der Menschen in Halabja lernen soll. Sie sagte: „Nach etwa 30 Jahren wissen wir nicht, wo die Hilfsgelder geblieben sind und was damit gemacht worden ist. Wir haben nicht einmal einen Saal, eine Gedenkstätte, wo wir in Ruhe trauern können. Halabja sieht immer noch wie ein Dorf aus. Unsere Jugendlichen haben keine Lebensperspektive, weil es in der Stadt keine Beschäftigungsmöglichkeiten gibt.“

Die Konferenz, die als eine Geberkonferenz agieren sollte, hat ihr Ziel auch am zweiten Tag verfehlt. Nur einige NGOs machten konkrete Vorschläge, in dem sie sagten, dass sie eine kleine Gesundheitsstation oder eine Schule bauen möchten.

Kobanê ist seit dem 26. Januar wieder frei, aber fast total zerstört und vom Osten, Süden und Westen im Umkreis von 30-40 km von den islamistischen IS-Banden umzingelt. Solange die Grenze zum Norden, zur Türkei für Waren- und Personenverkehr dicht bleibt, kann in Kobanê im Sinne des Wortes kein Wiederaufbau erfolgen.

Konkret wurde das Ausmaß der Zerstörung der Stadt durch ein Video, das zum Weinen der Delegierten beitrug. Der Vertreter der Kirchen in der Türkei sagte: „Ich bin weder Kurde noch Moslem. Ich bin ein Armenier, ein Christ. Ich habe wie ihr beim Zuschauen des Videos geweint. Wir helfen nach unseren Möglichkeiten den jesidischen Flüchtlingen aus Sindchar/Shengal. Jede Woche verteilen wir dort Gemüse und Obst im Wert von 35.000 Türkische Lira. Außerdem helfen wir den kurdischen Flüchtlingen aus dem Irak mit Grundnahrungsmitteln. Jeder muss das leisten, was er kann.“

Die Architekten- und Ingenieurkammer von Amed/Diyarbakir hat im Auftrage der Kantonalregierung eine professionelle Bestandaufnahme, ein Röntgenbild der Zerstörung gemacht. Sie hat jede Viertel der Stadt durchleuchtet, durch alte Pläne verglichen und das Ausmaß der Zerstörung dokumentiert. Das Stadtzentrum und der Basar der Stadt, d.h. das Herz von Kobanê ist bis zu 100 Prozent zerstört. Die Wohnviertel sind zum Teil bis zu 50 Prozent erhalten geblieben.

Wasser- und Stromversorgung der Stadt ist seit 2-3 Jahren von IS zum Erliegen gebracht worden. Einige Brunnen und Generatoren in der Stadt reichen nicht aus, den Bedarf der Bevölkerung zu decken. Die Haupteinnahme der Bevölkerung basierte auf landwirtschaftlichen Erzeugnissen. Mit insgesamt 164.000 Hektar Ackerflächen hat Kobanê etwa 40% des Getreides in Syrien produziert, das für mindestens ein Jahr verloren gegangen ist. Achtzig Prozent der landwirtschaftlichen Maschinen, wie Traktoren, wurden entweder mitgenommen oder zerstört. Von 340.000 Tieren Viehbestand ist fast nichts übrig geblieben.

Es wurde vereinbart, dass eine Wiederaufbaukonferenz auch in Europa stattfinden soll. Außerdem wurde beschlossen, eine Stiftung zum Wiederaufbau von Kobanê zu gründen und alle Spendengelder dort zu sammeln. Ferner wurde eine Koordination aus 15 Personen gebildet, in der auch zwei Personen aus Europa Platz nehmen sollen. Da die Delegierten aus Europa sich über die Namen der zu entsendenden Delegierten nicht einigten, blieben diese Plätze unbesetzt.

Anstatt eine weitere Mammut-Konferenz mit 350 Menschen zu veranstalten, konnte man mit etwa 50-100 Experten effektiver arbeiten und handfeste Ergebnisse erzielen. Der Bericht und die Bestandaufnahme der Architekten- und Ingenieurkammer von Diyarbakir zeigten, dass genügend Spezialisten auch in Kurdistan vorhanden sind. Mit Arbeitsgruppen und Workshops konnte man in einigen Bereichen, wie Wiederaufbau, Infrastruktur, Erziehung, Gesundheit, Ackerbau, diplomatische und politische Druckmechanismen, gute und anschauliche Ergebnisse erzielen.

Solange aber die Grenze über die Türkei nach Kobanê für Waren- und Personenverkehr nicht freigegeben wird, wird es fast unmöglich sein, Kobanê wiederaufzubauen und europäische NGOs zu gewinnen. Um diese Grenze zu öffnen, muss eine effektive politische und diplomatische Arbeit geleistet und der Druck auf die Regierung in Ankara erhöht werden.

Die Öffentlichkeit in Deutschland und Europa ist gefordert, die Sensibilität, die sie während der Kämpfe und Belagerung in Kobanê zeigte, auch zum Bewegen der politischen Mechanismen zum Öffnen der Grenze und zum Wiederaufbau von Kobanê an den Tag zu legen. Ohne Öffnung der Grenze, ohne Sicherheit und ohne Erwerb- und Einkommensmöglichkeiten haben die Menschen in Kobanê keine Zukunft!

(Nützliche Nachrichten 4-5/2015)